Hildegard von Bingen wurde im Jahre 1098 in Bermersheim geboren. Schon in jungen Jahren kam sie in das Benediktinerkloster am Disibodenberg. Im Alter von sechzehn Jahren trat sie der Gemeinschaft bei und wurde bereits mit 35 Jahren zur leitenden Äbtissin ernannt. Hildegard von Bingen hatte von Geburt an bis zu ihrem Lebensende die Gabe der Schau. Diese visionäre Begabung war Bestandteil ihrer Natur, die ihr eine tiefe Erkenntnis der Dinge im Sinne einer Teilhabe an der Weisheit Gottes vermittelte. Lassen wir Hildegard selbst zu Wort kommen:
„Von meiner Kindheit an bis heute, erfreue ich mich stets dieser Schau in meiner Seele… Die Visionen aber, die ich sah, empfing ich nicht im Traume, nicht im Schlaf oder in Geistesverwirrung, sondern durch die Augen und Ohren des inneren Menschen, wie Gott es wollte.“ *
Für gewöhnlich verweilte Hildegard von Bingen im „Schatten des Lebendigen Lichtes“. Das war ihre stete Gabe der Schau, das beinahe selbstverständliche Erkennen von Dingen, die uns verborgen bleiben. Das „Lebendige Licht“ selbst sah Hildegard erstmals im Alter von 42 Jahren und es war für sie ein überwältigendes Ereignis:
„Es geschah im Jahre 1141 als ich 42 Jahre und 7 Monate alt war. Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand und plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testamentes.“
Durch dieses Ereignis wurde Hildegard von Bingen auf die Ebene der Propheten gestellt, weil das „Lebendige Licht“, d.h. Gott Vater, zu ihr sprach. Es war keine Zwiesprache mit Gott, wie bei Moses, sondern Gott zeigt Hildegard eine bestimmte Szene in einer Vision und in dieser spricht Gott über deren Bedeutung. Hildegard stellt dazu keine Fragen, sondern bringt zu Papier, was ihr das „Lebendige Licht“ in Wort und Bild offenbart. Auf diese Weise entstehen die großen theologischen Werke, gemäß dem Auftrag:
„Schreib, was du siehst und hörst! Tu kund die Wunder, die du erfahren! Schreibe sie auf und sprich!“
Zehn Jahre lang mühte Hildegard sich ab, ihr Erstlingswerk, das Buch SCIVIAS, fertigzustellen. Die durchdringende Erkenntnis nach ihrer „Prophetenweihe“ bezog sich nicht allein auf die Heilige Schrift, sondern auf alle Dinge der Welt, auf die Elemente, den Bau des Kosmos, ja auf die ganze Weltgeschichte bis zum Jüngsten Tag.
„Gott verlieh mir eine untrügliche Kenntnis der Dinge, sodass ich den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente verstehe, Anfang, Ende und Mitte der Zeiten, den Kreislauf der Jahre und die Stellung der Gestirne, die Natur der Tiere, die Gestalt der Geister (Engel) und die Gedanken der Menschen, die Verschiedenheiten der Pflanzen und die Kräfte und Wurzeln. Alles Verborgene und alles Offenbare habe ich erkannt, denn es lehrte mich die Weisheit, die Meisterin aller Dinge.“
Hildegards Werke sind eine unermessliche Bereicherung für den Glauben, für die Wissenschaft, die Medizin und andere Disziplinen. Immer wieder verbürgt Hildegard sich dafür, keine persönliche Meinung kundzutun, sondern nur das niederzuschreiben, was sie im „Lebendigen Licht“ hört und sieht:
„Und ich sprach und schrieb nichts aus eigener Erfindung oder irgend eines Menschen, sondern wie ich es in himmlischer Eingebung sah und hörte und durch die verborgenen Geheimnisse Gottes empfing.“
Hildegard von Bingens Eifer für das Reich Gottes trieb sie zu beschwerlichen Missionsreisen, wo sie in Klöstern und auf Marktplätzen predigte. Völlig furchtlos forderte sie das Volk und den Klerus zur Umkehr auf. Auch dem gefürchteten Kaiser Barbarossa begegnete sie mit scharfen Worten, so dass er seine Kämpfe gegen den Papst unterließ. All das war für die damalige Zeit und vor allem für eine Frau schon sehr außergewöhnlich und mutig. So erfüllte Hildegard von Bingen nicht nur den Auftrag zu schreiben, sondern auch zu sprechen, wie ihr geboten war. Am 17. September 1179 starb diese unvergessliche Prophetin im Alter von 81 Jahren. Über ihrem Grab, so wird berichtet, strahlte tagelang ein helles Licht. Nach ihrem Ableben pilgerten die Menschen in Scharen zu Hildegards Grab, denn es geschahen viele Wunderheilungen. Der Trubel wurde für das Klosterleben so groß, dass man den Bischof von Mainz rief, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Der Bischof ging zu Hildegards Grab und verbot ihr, weiterhin Wunder zu wirken. Die Verstorbene (!) gehorchte! Von dieser Stunde an hörten die Heilungswunder schlagartig auf und Hildegard geriet überraschend bald in Vergessenheit. Seit etwa 50 Jahren erlebt die Gesundheitslehre von Hildegard von Bingen wieder eine großartige Renaissance. Über ihre naturkundlichen Werke „PHYSICA“ und „CAUSAE ET CURAE“ finden viele Menschen auch wieder Zugang zu ihren religiösen Werken.
* kursiv dargestellter Text = Originaltext Hildegard von Bingens