„Ein Mensch, der im Sommer bei schon reichlicher innerer Wärme sehr warme Speisen zu sich nimmt, erregt leicht bei sich die Gicht, isst er aber im Sommer bei großer innerer Wärme sehr kalte Speisen, so schafft er in sich Phlegma. Deshalb soll der Mensch im Sommer in Wärme und Kälte gemäßigte Nahrung zu sich nehmen, diese bringt ihm gutes Blut und gesundes Fleisch. Wenn jemand im Sommer, wenn er inwendig sehr warm ist, viel isst, wird sein Blut von dem vielen Essen übermäßig erwärmt, die Säfte werden nach der schlechten Seite hin verändert und das Fleisch seines Körpers aufgebläht und unnatürlich aufgetrieben, weil dann die Luftwärme übergroß ist. Isst er dann mäßig, so bringt ihm dies keinen Schaden, sondern erhält die Gesundheit.
Im Winter aber, wenn der Mensch innerlich sehr kalt ist, schafft es ihm Gesundheit und macht ihn fett, wenn er viel isst. Zu jeder Zeit aber soll sich der Mensch davor hüten, dass er nicht siedend heiße und von Nässe rauchende Speisen zu sich nimmt, vielmehr soll er abwarten, bis nach dem Kochen die Hitze und der Dampf von ihrer Feuchtigkeit sich verzogen haben, weil, wenn er sie heiß und noch rauchend verzehrt, sie seinen
Magen aufblasen und in die Höhe treiben und leicht den Aussatz bei ihm verursachen.
Leidet aber ein Mensch unter großer Trauer, so soll er hinlänglich von ihm bekömmlichen Speisen zu sich nehmen, damit er durch die Nahrung wieder neu belebt wird, weil die Traurigkeit auf ihm lastet. Bei großer Freude aber soll er im Essen mäßig sein, weil das Blut durch die Erweiterung seiner Bahn aufgelöst ist, und wenn er dann zu viel isst, die im Blute enthaltenen Säfte in die Stürme der Fieber umgewandelt werden.
Auch soll der Mensch im Winter nicht viel trinken, weil dann die Luft seine Säfte anfeuchtet. Denn wenn er dann viel trinkt, verdirbt er seine inneren Säfte und zieht sich selbst Krankheiten zu. Im Winter soll er Wein oder Bier trinken und das Wasser, wenn er kann, vermeiden, weil die Gewässer in dieser Jahreszeit wegen der Erdfeuchtigkeit nicht gesund sind. Im Sommer dagegen soll er mehr trinken wie im Winter und entsprechend der Menge und Art der Nahrung, die er dann zu sich nimmt, weil dann die Säfte in ihm ausgetrocknet werden. Das dann getrunkene Wasser schadet ihm wegen der Trockenheit der Erde weniger wie im Winter. Im Sommer, wenn der Mensch inwendig sehr warm ist und dabei körperlich gesund, soll er mäßig lauwarmes Wasser trinken und gleich nachher ein wenig hin und her spazieren, damit es in ihm warm wird. Das ist für die Gesundheit
des Leibes vorteilhafter, wie wenn er Wein trinkt. Wer aber am Körper schwach ist, soll im Sommer mit Wasser gemischten Wein oder Bier trinken, weil ihn das mehr erquickt, wie wenn er Wasser trinkt. Zu jeder Zeit aber, sei es im Sommer oder im Winter, hat sich der Mensch vor unmäßigem Trinken zu hüten. Wie zu reichlicher Regen dem Erdreich durch das zu viele Wasser schadet, so bringt auch, wer übermäßig trinkt, seinem Körper den Nachteil schädlicher Säfte. Es soll sich aber der Mensch das Getränk auch nicht zu sehr entziehen, denn wenn er sich bei seiner Enthaltsamkeit vom Trinken trocken gemacht hat, bekommt er davon Beschwerde an Geist und Körper. Auch können ihm dann die aufgenommenen Speisen innerlich weder eine gute Verdauung noch körperliche Gesundheit bringen,
wie auch der Erdboden schwer zu bearbeiten, hart und trocken wird und keine guten Früchte bringt, wenn ihm die Durchfeuchtung durch den Regen entzogen wird. Wenn aber der Bauch des Menschen von Speise und Trank voll ist, ist es nötig, dass er die Reinigung der Verdauung hat.“ Hildegard von Bingen